In Deutschland ist die individuelle persönliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten erheblich vernachlässigt worden. Im Fokus und Zentrum standen die intellektuelle und daraus abgeleitet die berufliche Entwicklung. Man ging davon aus, dass eine gute Schulbildung, möglichst mit dem Abitur und einem erfolgreichen Studium, die entscheidende Grundlage für den beruflichen und damit auch den privaten bzw. den ganzheitlichen Erfolg ist.
Das ist zum einen sicherlich richtig, zum anderen aber muss die betroffene Person auch die nötigen Grundlagen und Neigungen für diesen Weg haben. Darüber hinaus sind die Führungspositionen, zu denen die Menschen mit diesem Qualifikationsprofil oft streben, relativ rar gesät und es sind in erster Linie die sogenannten Soft Skills wie die Persönlichkeit, die Führungsfähigkeiten und in erheblichem Maße das eigene Netzwerk, die über den Karriereweg entscheiden. Einschließlich der Neigung Netzwerke zu bilden sind das alles Eigenschaften, die ein Mensch mitbringt, ohne dass er sie wesentlich beeinflussen kann. Entscheidend ist also in diesem Fall die grundlegende Persönlichkeit.
Das gilt ebenso für erfolgreiche Unternehmer, die mit ihren kreativen Ideen und Produkten die Gesellschaft voranbringen. Ein Mensch kann nicht zu einem quirligen und kreativen Unternehmer qualifiziert werden, diese Fähigkeiten muss er schon persönlich mitbringen. Allerdings unterstützen ihn dabei natürlich eine gute Schul- und Berufsausbildung bzw. ein passendes Studium und sind daher sehr wichtig und wertvoll.
Ich denke, wir sollten uns an dieser Stelle auch ein Stück weit ehrlich machen und die Grenzen unserer aktuellen schulischen und beruflichen Ausbildung, die sich noch in erheblichem Maße an dem Gesellschaftssystem und den Rahmenbedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausrichten, anerkennen (neben den Potenzialen, unser Schul- und Ausbildungssystem hat uns schließlich zu dem gemacht, was wir heute sind).
Die Gesellschaft ist heute ganz anders aufgebaut und die Anforderungen an das Berufs- und das Gesellschaftsleben haben sich erheblich gewandelt. Nicht zuletzt die Technologien, mit denen gearbeitet und kommuniziert wird, haben sich rasant verändert, wobei die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. Aber nicht nur die Anforderungen sind gewachsen, sondern auch die Möglichkeiten, mit denen die Schüler individuell qualifiziert werden können, haben sich vervielfacht.
Während früher eine Vielzahl von Schülern von einem Lehrer mit wenigen medialen Werkzeugen gemeinschaftlich unterrichtet wurde und damit eine Individualisierung des Unterrichts praktisch unmöglich war, besteht heute die Möglichkeit durch eine Vielzahl von multimedialen Errungenschaften und Computer-Programmen, den Frontalunterricht abwechslungsreicher und besser abgestimmt auf die Anforderungen des einzelnen zu gestalten.
Entscheidend dabei ist, dass man anerkennt, dass die Menschen unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen haben (nicht jeder ist geeignet, den gleichen Weg zu gehen) und vor allem, dass man aufhört, den einen Weg gegen den anderen auszuspielen. Dazu gehört auch die Beendigung der unsäglichen Unterscheidung zwischen höherer und geringerer Bildung.
Heute ist es noch so, dass eher kognitiv starke Schüler (mit Gymnasialabschluss und Studium – und nicht selten mit eher weniger ausgeprägten emotionalen Fähigkeiten – jeder Mensch hat Vor- und Nachteile) als höher gebildet eingestuft werden und die gefühlsbetonten und empathischen Menschen, die heute in der Regel einen Realschul- oder gar Hauptschulabschluss haben, als minderqualifiziert gelten.
Das führt dazu, dass die kognitiven Fähigkeiten (die selbstverständlich ihre Bedeutung haben) dominieren und damit auch die gesamte Gesellschaft entsprechend ausgerichtet wird. Für die zunehmende Gefühlskälte unserer Gesellschaft könnte das ein möglicher Auslöser (neben anderen) sein.
Aber auch bei den kognitiven Fähigkeiten wird in der Schule noch der Schwerpunkt auf das Erlernen von Routinen gelegt. Kreative Leistungen spielen eine eher untergeordnete Rolle. Das führt dazu, dass die Schüler, die ihre Stärken im Erlernen von Routinen und dem (teilweise auch unreflektierten) Speichern von Informationen haben, besonders gute Noten bekommen, während diejenigen, die ihre Stärken in der (teilweise sicherlich auch etwas chaotischen) Verknüpfung von Informationen und der Schaffung von Innovationen haben, eher schlechtere Noten bekommen.
Im Berufsleben sieht das heute jedoch schon vielfach umgekehrt aus. Durch die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz werden die Routinen zunehmend von technischen Einrichtungen und Systemen übernommen und der entscheidende Faktor für den beruflichen Wert ist die kreative Innovationsfähigkeit. Das heißt, die entscheidenden Größen werden durch unser Bildungssystem (das in der Vergangenheit nicht nur seine Berechtigung hatte, sondern sehr gute Dienste leistete) nur noch unzureichend ausgebildet und abgeprüft.
Hier gilt es jetzt nicht den Hebel umzulegen und eine neue Hierarchie zu schaffen, sondern anzuerkennen, dass jeder Mensch seine Stärken und Schwächen hat und dafür zu sorgen, dass jeder gemäß seiner Façon nicht nur glücklicher, sondern auch besser ausgebildet wird und ein wertgleiches und gerechtes Leben führen kann. Ein wichtiger Faktor dafür ist die entsprechende Anpassung unseres Bildungssystems.